»Ich bin Emma Wagner, die Fotografin von ›Unvergessen‹.«
»Schön, dass Sie hier sind«, sagte die Hebamme mit ruhiger Stimme und klemmte sich eine dicke graue Haarsträhne hinters Ohr. Viele Krankenhäuser unterstützten die Organisation, und wenn etwas Schlimmes passierte, informierte das
Krankenhauspersonal die betroffenen Familien über das Angebot. Denn viele Familien hatten nicht den Mut oder die Kraft, diese Entscheidung zu treffen. Doch immer mehr Familien war bewusst, dass
diese Fotos womöglich die einzigen Erinnerungen an die letzten Stunden bleiben würden, und so wurden immer häufiger die Dienste der Fotogengel, wie Emma und ihre Kollegen liebevoll genannt wurden, in Anspruch genommen.
Hebamme Monika, informierte Emma über die Umstände. Die beiden Frauen standen dabei vor der Tür des Krankenhauszimmers in einem langen, tristen Flur mit senffarbenem
Linoleumboden und grellen Lampen an der Decke. Emma hatte schon so oft in solchen Fluren gestanden, doch daran gewöhnen würde sie sich nie.
»Die Hirnblutung ist während der Geburt aufgetreten, den exakten Grund dafür kennen wir noch nicht. Wahrscheinlich ein Aneurysma, eine geplatzte Ader im Kopf«, erklärte Monika. Nur noch die Maschinen hielten die Frau am Leben. Zunächst habe es noch Hirnströme gegeben, doch nun gelte die Frau als hirntot. »Die Maschinen laufen noch, weil die Organe zur Transplantation freigegeben werden könnten. So tragisch es ist, aber wir hoffen natürlich, dass der Ehemann sich dafür entscheidet«, sagte die Hebamme. »So haben wir ein bisschen Zeit, diese wertvollen Fotos zu machen.«
Emma nickte. Obwohl Hebamme Monika die Geschichte sachlich darlegte, spürte Emma die Traurigkeit der Fachfrau, für die so ein Ereignis wohl auch nicht zur Tagesordnung gehörte. »Das Baby ist, soweit wir es beurteilen können, gesund. Das ist ein kleines Wunder. Unsere Ärzte haben sehr schnell reagiert. Babys, die so was überleben, haben oft Hirnschädigungen, weil sie lange ohne Sauerstoff waren. Doch hier ging alles sehr schnell.« Es sei das erste Baby des Paares. Der Vater habe sich für den Einsatz von »Unvergessen« entschieden, um dem Kind gemeinsame Fotos mit seiner Mama zu ermöglichen. »Er wirkt sehr gefasst. Keine Ahnung, wie es in ihm ausschauen mag«, sagte Monika betrübt.
Was für eine Katastrophe!
Emma hatte einen schönen Hintergrund mitgebracht und ein paar kuschelige Decken. Ihr wurde allerdings rasch bewusst, dass sie damit nichts würde bewirken können, denn Monika hatte ihr erklärt, dass die Frau bleiben musste, wo sie war – in einem kühlen, sterilen und alles andere als zauberhaften Krankenhausbett, angeschlossen an tausend Kabel und Monitore.
Die Hebamme ging in den Raum, um nachzuschauen, ob alles bereit war. Manchmal bedauerte Emma den Umstand, dass die Fotos nach Krankenhaus aussahen und keine heimelige, kuschelige Atmosphäre transportierten. Andererseits wusste sie, dass es dem Menschen später wohl herzlich egal sein würde, unter welchen Umständen die Fotos aufgenommen worden waren – Hauptsache, sie existierten.
Emma beschloss, eine ihrer Decken auf die sterbende Mama zu legen und das Baby darin einzukuscheln.
»Sie können jetzt zur Familie«, sagte Monika, die soeben aus der Zimmertür trat. »Der Vater und das Baby sind bereit.«
Emma nickte und fragte sich für einen kurzen Augenblick, ob sie es auch war. Das war zweifelsohne ihr bisher schlimmster Einsatz. Wenn sie zu einem Schaffensort fuhr, hörte sie für gewöhnlich laute, fröhliche Musik. Das lenkte sie ab und vertrieb die traurigen Gedanken. Vor dem Krankenhaus setzte sie sich dann auf eine Bank und blieb einige Minuten einfach ruhig. Sie konzentrierte sich auf ihre Aufgabe, löschte die Emotionen aus ihrem Kopf und ihrem Herzen. Sie konnte so etwas nur professionell durchstehen, wenn sie ruhig blieb und sich nicht von ihren Emotionen leiten ließ. Klar zeigte sie diese, sie durfte sie nur nicht zu tief in ihr Herz lassen. Dann ging sie in der Regel hinein. Das war heute nicht anders gewesen, und doch musste sie jetzt leer schlucken, als sie sich bewusst machte, was ihr bevorstand.
Langsam lief sie hinter Monika ins Zimmer. Es piepste. Ein großer dunkelhaariger Mann mit einem dunklen Vollbart saß in einer Ecke auf einem Sessel, in den Armen hielt er ein kleines Baby. Hinter ihm war ein ausladendes Fenster, das jedoch von einem dicken roten Vorhang bedeckt war. Der Mann trug nur eine Jogginghose, ein weißes T-Shirt und Turnschuhe. Was hatte er in den letzten Stunden alles mitansehen müssen?
Er sprach leise auf das Bündel ein, seine Stimme klang ruhig und gefasst. Emmas Blick schweifte durch den Raum. Das Krankenbett stand rechts neben dem Mann an der Wand, darum herum gab es etliche Monitore. Emma hatte keine Ahnung, was sie alles anzeigten. Sie ging auf den bärtigen Mann zu und streckte ihm langsam die Hand entgegen. Er nahm sie nicht.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Emma Wagner, ich bin da, um Ihre Fotos zu machen, und ich habe solange Zeit, wie sie möchten.«
Der Mann blickte auf und nickte ihr zu, ohne jedoch etwas zu sagen oder aufzustehen.
Sie trat ein bisschen näher ans Bett heran, um die arme Mama des Neugeborenen anzuschauen.
Und Emma gefror das Blut in den Adern.