Teil I: «Alles verändert sich mit dem, der neben mir ist oder neben mir fehlt.»
Kapitel 1
Drama um Triathlon-Olympiasieger
Sebastian Fischer stirbt bei Canyoning-Unglück
Der erst neununddreißigjährige Sportler hinterlässt seine Partnerin, die Ruder-Olympiasiegerin Hanna Caminada, sowie die gemeinsame vierjährige Tochter.
Er legte ganz langsam sein Tablet auf den Tisch. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er bemerkte, dass er unter Schock stand. Es war schon so lange her, seit er Hanna zuletzt gesehen hatte. Zwölf Jahre.
«Ich werde dich nie vergessen.»
Das hatte er ihr damals bei ihrem letzten Treffen gesagt. Er hatte sich daran gehalten. Immer wieder hatte er an sie denken müssen. Manchmal hatte er gehofft, dass sie glücklich war. Manchmal hatte er sie vermisst. Und ziemlich oft hatte er sie in seinen Träumen gesehen. Darin hatte er nie die Entscheidung getroffen, nicht mit ihr zusammen zu sein. In seinen Träumen waren sie glücklich gewesen, hatten eine Familie gegründet.
Sie musste inzwischen fünfunddreißig Jahre alt sein. Er selbst feierte bald seinen vierundvierzigsten Geburtstag. Er fühlte sich plötzlich uralt. Aber er war noch am Leben. Im Gegensatz zu diesem Sebastian, der noch einiges jünger gewesen war als er selbst.
Er schaute in den Spiegel, der im Wohnzimmer über einer hölzernen Kommode hing. Wie scheußlich er ist dachte er mit einem Mal. Rechteckig mit einem silbernen Rand. Modern vielleicht, wenn man ihn richtig kombiniert hätte. Aber um eine schöne Einrichtung hatten sie sich noch nie bemüht. Er fand, er sah bleich aus, fahl. Er saß noch immer regelmäßig im Ruderboot, joggte oder ging wandern oder Fahrrad fahren. Seine Sportlichkeit hatte er sich bewahren können. Doch seine dichten, einst blonden Haare wurden immer grauer. Immerhin waren sie noch vollzählig.
Er kam sich plötzlich dumm vor, als ihm klar wurde, dass er sich um sein Äußeres sorgte, während Hanna um ihre große Liebe trauerte. Früher hatte sie immer gesagt, er sei ihre große Liebe. Er war sich nie sicher gewesen. Natürlich hatte er ihr geglaubt, doch sie war damals so jung gewesen und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt – und er hatte immer ein bisschen die Befürchtung gehabt, sie könnte es sich anders überlegen und ihm das Herz brechen. Gebrochen wurde es dann sowieso.
Er griff erneut nach dem Tablet und las den ganzen Artikel. Sebastian Fischer war ein Olympiaheld. Natürlich kannte er ihn. Nicht persönlich. Aber aus den Medien. Er wusste, dass er Hannas Partner gewesen war. Sie mussten sich kennengelernt haben, als sie selbst bei Olympia an den Start ging – und sensationell Gold holte. Vor acht Jahren also. Damals war Fischer «nur» sechster geworden. Doch vor vier Jahren und erst jetzt, vor wenigen Wochen, hatte er geglänzt – und war zweimal als bester Triathlet der Spiele zuoberst auf das Treppchen geklettert. Er war ein Vorbild. Ein verwegener Kerl, witzig, eloquent, gutaussehend. Er war nie abgehoben, hatte immer allen geholfen, ein offenes Ohr gehabt. Vor allem Kinder hatten ihm am Herzen gelegen. Aber er war auch ein Abenteurer gewesen. So ein völlig anderer Typ als er selbst.
Fischer hatte Extremsportarten geliebt, war ein routinierter Canyoning-Sportler gewesen, der auch Touren geleitet hatte. Zusammen mit einem Kollegen hatte er eine Kletterstelle sichern wollen, als die Fluten eines Wildbachs die beiden Männer erwischten. Sie waren sofort tot gewesen.
Warum waren die Männer in dem Canyon?, fragte auch die Zeitung. Eigentlich hätten sie es wissen müssen. Solche Wildbäche waren trügerisch. So schnell konnten die Wassermassen ansteigen.
Es hatte in den letzten Jahren einige Gelegenheiten für ihn gegeben, sich bei Hanna zu melden. Ihr Olympiasieg, ihr Rücktritt, die Nachricht von der Geburt ihrer Tochter. Als Sportheldin war sie ein begehrter Talk-Gast gewesen, auch wenn sie selbst nicht den Anschein gemacht hatte, dass sie Lust auf diese Publicity hatte. Sie hatten sich damals oft darüber unterhalten. Dass dies ein Teil des Erfolgs sei. Keiner von ihnen hatte diesen Aspekt des Sportlerdaseins gemocht.
Doch dank der Medien hatte er einiges aus ihrem Leben mitbekommen. Natürlich auch wegen der Popularität ihres Partners. Immer wieder hatte er zum Handy gegriffen und einige Worte getippt – und sie dann wieder gelöscht. So war über ein Jahrzehnt vergangen. Zwölf Jahre, in denen er konsequent seinen Plan B gelebt hatte.
Er stand auf und holte sich einen Kaffee. Doch er merkte schnell: Das reichte nicht. So griff er nach der Flasche mit dem Whisky. Er trank tagsüber nie Alkohol. Eigentlich trank er generell sehr selten Alkohol. Doch in diesem Moment hatte er das Gefühl, Whisky sei das Einzige, das helfen konnte. Wobei? Den inneren Aufruhr zu unterdrücken. Sich zu beruhigen. Nachzudenken. Mutig zu werden. Und dann das Richtige zu tun.
Er kippte zwei Gläser, dann griff er nach seinem Handy. Dieses Mal würde er auf «senden» drücken.
«Liebe Hanna. Ich bin erschüttert. Ich weiß nicht, was ich sagen oder schreiben soll. Aber ich kann diese Nachricht nicht einfach ignorieren. Es tut mir so unendlich leid. Ich möchte dir gerne sagen, dass ich an dich denke. Jetzt. Und in den vergangenen zwölf Jahren. Wenn es etwas gibt, das ich tun kann, bitte lass es mich wissen. Dein Simon»
«Senden».
Er drückte darauf und dann brauchte er noch einen Whisky. Anschließend nahm er sein Fahrrad und fuhr zum See. Es war ziemlich kalt für einen Oktobertag. Doch er wagte es nicht, sich nach drei Gläsern harten Alkohols noch ans Steuer seines Wagens zu setzen. Ein kurzer Ausflug mit seinem Ruderboot würde ihm bestimmt helfen. Die Nachricht war abgeschickt, jetzt konnte er nur warten. Obwohl er eigentlich nicht damit rechnete, eine Antwort zu bekommen. Er wusste noch nicht einmal, ob Hanna ihre alte Handynummer behalten hatte.
Doch sein Handy bimmelte, er war noch nicht einmal beim See angekommen. Er stieg vom Fahrrad und holte sein Smartphone aus der Tasche.
«Simon. Bitte hilf mir!»
Er bemerkte, dass er ein kleines bisschen schwankte. Der Whisky war wohl doch keine sehr gute Idee gewesen – auch wenn er ihn zugegebenermaßen innerlich beruhigt hatte. Er stiess das Rad über den mit Kieseln bedeckten Weg hinunter zum See. An Rudern war nicht mehr zu denken. Er legte das Rad auf den Boden und setze sich auf die kleine Mauer, die den See vom Ufer trennte. Dann holte er tief Luft.
Die Message war klar: Sie wollte seine Hilfe. Sie klang verzweifelt. War er der Richtige? War das wichtig? Wichtig war, dass er ihr half, wenn sie es sich wünschte. Und er war bereit dazu. Oder?
«Darf ich zu dir kommen?»
«Ja!»
«Wohin?»
Sie nannte ihm eine Adresse in einem Ort, ungefähr eine halbe Stunde Autofahrt von ihm entfernt. Mist! Er bereute nun seinen Whisky-Konsum definitiv. Zunächst fuhr er mit seinem Rad wieder nach Hause. Es war jetzt kurz nach Mittag. Lisa arbeitete. Elias war bei seinen Großeltern, und für den Sonntag war ein Ausflug in den Zoo geplant. Heute war Samstag. Er hatte frei. Und Zeit. Zuhause angekommen stellte er sich unter die Dusche und zog sich frische Kleider an. Die Aussicht, Hanna zu sehen, machte ihn nervös. Er musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass der Anlass ein trauriger war. Dass sie nicht in der Stimmung war, über ihre gemeinsame Vergangenheit zu sinnieren. Und dass er nicht klar wusste, wie er ihr helfen konnte. Warum sie ausgerechnet seine Hilfe wollte. Er zog sich eine Jeans an und ein weißes T-Shirt, darüber einen braunen Cardigan. Mit inzwischen deutlich über vierzig war er nicht mehr jung genug für seine Schülerinnen[TV2] [n3] , die hin und wieder für ihn schwärmtenDeshalb hatte sich sein Lehrerdasein merklich entspannt – und er hatte einen gewissen Sinn für Mode entwickelt. Braune Schuhe aus Wildleder und eine dunkelblaue Jacke rundeten sein Outfit ab. Seine Haare trug er weiterhin gerne ungekämmt – doch sie waren etwas länger als früher und standen ihm nicht mehr um den Kopf wie bei einem Igel. Auch den Bart hatte er belassen.
Er aß einen grossen Teller Suppe mit einem Stück Brot – dies mit dem einzigen Ziel, den Alkoholpegel in seinem Blut zu senken. Er hatte vor, mit dem Auto zuHanna zu fahren. Allerdings hielt er sich selbst nicht für fahrtauglich, nicht nur wegen des Alkohols. Er bestellte sich ein Taxi. Eine gute Stunde nachdem er die Nachricht erhalten hatte, machte er sich auf den Weg. Und wieder eine halbe Stunde später stand er mit zitternden Händen vor dem schmucken Einfamilienhaus. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Das Haus war neu, es hatte ein Flachdach und einen grauen Anstrich. Es wirkte sehr klein, doch er bemerkte, dass das Haus in einen Hang hinein gebaut worden war – auf der anderen Seite musste es deutlich höher sein. Er dachte an seine eigene Wohnung, die kahl und nüchtern war. Etwas, das er mit einem Mal bedauerte. Was für ein Blödsinn. Er stand vor Hannas Haus und sobald er den Mut hatte, auf die Klingel zu drücken, würde er sie wiedersehen. In welchem Zustand?